Schrifttragende Medien und ihre Funktion in Nord- und Mittelitalien, 1250–1350

Schrifttragende Medien und ihre Funktion in Nord- und Mittelitalien, 1250–1350

Organisatoren
Giuseppe Cusa, Wissensdiskurse des Mittelalters, Historisches Institut, RWTH Aachen
Ort
digital (Aachen)
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.02.2021 - 27.02.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Caroline Galla / Giuseppe Cusa, Historisches Institut, RWTH Aachen

Politische, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen kennzeichnen die nord- und mittelitalienische Städtelandschaft im Zeitraum 1250–1350. Maßgeblich für viele dieser Wandlungsprozesse war der ubiquitäre Einsatz der Schrift, die in verschiedenen Kontexten und zu unterschiedlichen Anlässen Verwendung fand und auf verschiedenste Trägermaterialien aufgebracht wurde. Die Vielfalt dieser schrifttragenden Medien aus dem genannten Untersuchungs(zeit)raum zu beleuchten, nahm sich die zweitägige interdisziplinäre Konferenz vor.

Schwerpunktmäßig sollten dabei, wie Giuseppe Cusa in seiner Einführung darlegte, insbesondere Intermedialität und Funktion(en) der Medien betrachtet werden. Der Begriff „Intermedialität“ wurde bewusst breit gefasst, weil Medienkombinationen, -korrelationen, -wechsel und -konfigurationen in Augenschein genommen werden sollten. Mit Blick auf die Funktionen schrifttragender Medien ging ferner die Frage nach den Absichten der Produzenten sowie nach Rezeptionsvorgängen einher.

Die Relevanz der sprachlichen Vorprägung der kommunalen Eliten durch die Schulung in der ars dictaminis nicht nur für die öffentlichen Sprechakte der politischen Akteure, sondern auch für die verschiedenen Schriftmedien kommunaler Autoren veranschaulichte FLORIAN HARTMANN (Aachen). Von Berufspodestà etwa habe man eine gewisse Redefähigkeit im Rahmen tradierter Regeln und Gewohnheiten erwartet. Der Medienwechsel von Schriftlichkeit (artes dictandi) zu Mündlichkeit (artes arengandi) werde deutlicher erkennbar als der umgekehrte Weg vom gesprochenen zum verschriftlichten Wort, da in Geschichtswerken inserierte Reden oft vom Chronisten und nicht vom Protagonisten stammten, dem sie in den Mund gelegt wurden.

Eine ausführliche Analyse der vielfältigen Aussagen, Hinweise und Episoden zu Schrift und Lektüre in Dante Alighieris „Divina Commedia“ bot GAIA TOMAZZOLI (Pisa). So diskutiere der Florentiner Dichter auf seiner Jenseitsreise mit Poeten und anderen Autoren über Literatur. Auch verweise er explizit auf seine eigenen Werke, vor allem aber auf die Heilige Schrift. Unter Einsatz von Metaphern und bildhafter Sprache fänden verschiedene Schreibutensilien wie Feder (Inf. XXIV, 1–6), Papyrus (Inf. XXV, 61–66) oder Fleisch- und Haarseite eines Kodex (Par. II, 77–78) Erwähnung. Ferner stoße man auf schrifttragende Medien mit unterschiedlichen Trägermaterialien, etwa das Höllentor (Inf. III, 1–9) oder Dantes Stirn (Purg. IX, 112–113).

MARC VON DER HÖH (Rostock) widmete sich den Stadttoren italienischer Stadtgemeinden, die zugleich als Kommunikationsmedium dienten. Es ließen sich sechs mediale Typen dieser „Gesichter der Stadt“ unterscheiden, wobei im europäischen Vergleich Inschriften einzig auf italienischen Stadttoren angebracht worden seien. Dies liege am besonderen Umgang mit der Schrift in Kommunalitalien, die – auf antiken Traditionen beruhend – als Mittel politischer Kommunikation genutzt worden sei. Stadttorinschriften seien oft bloß fragmentarisch oder aus dem ursprünglichen medialen Kontext herausgerissen überliefert. In der Buchmalerei habe man Stadttore bis ins 15. Jahrhundert lediglich schematisch dargestellt.

Einen Überblick über die gestalterische Vielfalt und Aussagekraft öffentlicher und privater Siegel im kommunalen Italien gab CHRISTOPH FRIEDRICH WEBER (Braunschweig). Zahlreiche kommunale Siegelbilder und -umschriften entsprächen konventionellen Typen, die sich auch außerhalb Kommunalitaliens wiederfänden. Viele kommunale und private Siegel seien „redend“ gewesen: Die Namensnennung in der Umschrift sei heraldisierend im Siegelbild umgesetzt worden. Eine Korrelation zwischen Siegelbild und Umschrift (leoninische Verse) wiesen auch die großen Rundsiegel der Kommunen auf. Diese Text-Bild-Bezüge rekurrierten auf identitätsstiftende Elemente wie Stadtbild, Herrschaftsbereich oder Schutzpatron. Siegelumschriften seien zudem in andere Schriftmedien übertragen und ab dem Trecento auch als Geschichtsquellen herangezogen worden.

RINO MODONUTTI (Padua) beschäftigte sich mit der Auseinandersetzung paduanischer Prähumanisten mit pergamentenen und steinernen Hinterlassenschaften der Antike. Die Inschrift auf dem Sarkophag Lovato Lovatis, wohl vom Bestatteten selbst verfasst, ist von zwei Siglen eingefasst. Diese dürfte Lovato nicht wie bisher angenommen der antiken Grabplatte des Livius Halys entnommen haben, vielmehr könnte eine Inschriftensammlung als Vorlage gedient haben. Eine (gefälschte) antike Inschrift findet sich beispielsweise in einer von Rolando da Piazzola in Auftrag gegebenen Seneca-Abschrift (BAV, Vat. Lat. 1769). Die Fälschung sei aber keineswegs das Machwerk Albertino Mussatos und Rolandos, dessen Grabmal wiederum ein ausgeklügeltes Konzept mit antikisierenden Elementen aufweise.

ÉTIENNE DOUBLIER (Köln) thematisierte den Umgang mit und die pragmatische Funktion von franziskanischen Chartularen. Die Urkundensammlungen seien keine reinen Textspeicher gewesen, sondern hätten eine pragmatische Funktion des Wissensmanagements besessen; monastische und städtische Kopiare hätten dagegen oftmals eine symbolische oder repräsentative Funktion erfüllt. Die franziskanischen Kopialbücher enthielten nahezu ausschließlich Papsturkunden, waren zumeist nach thematischen Ordnungsprinzipien organisiert, in Rubriken gegliedert und mit Paragraphen versehen. Die Urkundenkopien wiesen keine graphischen Elemente auf. Urkunden seien daher als Texte, nicht als Medien übertragen worden.

GEORG CHRIST (Manchester) lenkte den Blick auf die Strategien des Wissensmanagements in venezianischen Kapitularien des ufficium de contrabannis, die von einer zunehmenden Bürokratisierung institutioneller Praxis zeugten. Die Behörde bekämpfte den Schmuggel, doch seien Einrichtung, Koordination und Kompetenzabgrenzung nur schemenhaft erkennbar. Die Kapitulariensammlungen zeigten sich als Vermittler zwischen dem Arkanum und der Institution, also zwischen verschiedenen legislativen wie administrativen Behörden, die die Komplexität des normativen Arkanums herunterbrachen. Offenbar für unterschiedliche Verwendungszwecke wurden zwei Typen dieser thematisch und chronologisch geordneten Kapitulariensammlungen angelegt: nüchterne Zusammenstellungen für die Alltagsgeschäfte, aufwendig gestaltete für repräsentative Anlässe.

GIUSEPPE CUSA (Aachen) untersuchte zwei historiographische Familienkollektaneen aus Padua, die auch Beschreibungen und Abbildungen der jeweiligen Familienwappen enthielten. Diese „Libri de generatione“ seien unabhängig voneinander zu einer Zeit der politischen Instabilität und Bedrohung der kommunalen Autonomie von den rechtsversierten Laien Giovanni da Nono und dem sogenannten Pseudo-Favafoschi abgefasst worden. In ihren Werken verarbeiteten sie chronikalische und hagiographische Textvorlagen sowie auch von ihren Berufskollegen mündlich tradiertes Wissen. Ihre vielfach kopierten, mitunter umgeordneten und erweiterten Text-Bild-Kombinationen veranschaulichten, worüber man sich als Stadtgemeinde und als Geschlecht definierte: Herkunft, Ahnen, Verwandtschaft, Reichtum, Wohnstätten und Wappen.

Eines besonderen Zugriffs bedarf die von NADINE HOLZMEIER (Rostock) analysierte Handschrift mit einer Version der „Chronologia Magna“ des Franziskaners Paolino Veneto aus den 1320er-Jahren, deren diagrammatische Struktur Strategien der didaktischen Wissensorganisation erkennen ließe (Venedig, BNM, Ms. lat. Z. 399 (=1610)). Die Chronik gliedert sich in schriftliche und diagrammatische Bereiche, in denen verschiedene Wissensbestände didaktisch aufbereitet würden. Sie biete in einem kombinierten Text-Bild-Medium sowohl chronologisch als auch synoptisch durch zwei strukturierende Achsen, die linea regularis und die linea Christi, eine Wissensdarstellung, die nicht nur zur Wissensabbildung, sondern auch zur Wissensgenerierung diene.

SARINA KÜRSTEINER (New York) beschäftigte sich mit der Ikonographie und religiösen Konnotation notarieller und archivarischer signa in Form von Reliquienmonstranzen. Diese Zeichen hätten nicht allein der individuellen bzw. institutionellen Identifikation gedient, sondern sich aus mehreren Medien herausgebildet und die professionelle Identität und Authentizität gefördert. Die Nutzung von Reliquienmonstranzen als individuelles Erkennungszeichen verdeutliche, dass man die eigene notarielle Praxis sowohl als weltliches wie auch als nahezu sakrales Wirken begriffen habe. Die Darstellung eines Bratschisten im Zentrum einer gezeichneten Reliquienmonstranz habe als Beispiel für eine gute Lebensführung und Harmonie fungiert und als Sinnbild für die notarielle Praxis Verwendung gefunden.

ANNETTE HOFFMANN (Florenz) analysierte die Formen und Funktionen der Intermedialität in der Bologneser Buchmalerei, exemplifiziert am Codex Riccardianus 1538, der eine volkssprachliche Übertragung des französischen Romans „I fatti di Cesare“ überliefert und einen doppelten Medienwechsel enthalte: die Ver„bildlichung“ eines zuvor nicht illustrierten Textes sowie die Verarbeitung anderer in Padua vorzufindender Medien. Die illustrierten Miniaturen in dem Manuskript fungierten als Bilderzählung, die an antike Erzählweisen erinnere. Durch Zusammenführung und Neuarrangement von Bildmotiven aus anderen Kunstwerken (Giottos Fresken in der Paduaner Arenakapelle und vermutlich auch ein antiker Schlachtensarkophag) habe der Künstler eine neue, den Textinhalt darstellende Bilderzählung geschaffen.

Die Tagungsbeiträge konnten die Vielfalt der schrifttragenden Medien des spätmittelalterlichen Kommunalitaliens, deren divergierende Funktionen, Verwendungszwecke und Rezeption ebenso wie mediale Wechselspiele, Transferprozesse, Ausgestaltungen und Kombinationen erhellen. Dabei hat sich einmal mehr bestätigt, wie gewinnbringend eine interdisziplinäre Ausrichtung sein kann.

Konferenzübersicht:

Giuseppe Cusa (Aachen): Einführung

Florian Hartmann (Aachen): Vom geschliffenen Modell schriftlicher Rhetoriklehre zum gesprochenen Wort. Überlegungen zum Medienwechsel in der kommunalen Rhetorik

Gaia Tomazzoli (Pisa): „Chi nel viso de li uomini legge“. Altre forme di scrittura e di lettura nella „Commedia” di Dante

Marc von der Höh (Rostock): Das Gesicht der Stadt. Inschriftliche und bildliche Ausstattung italienischer Stadttore

Christoph Friedrich Weber (Braunschweig): Aussagen und Anreden von Siegeln italienischer Stadtkommunen im Kontext des mittelalterlichen Siegel- und Inschriftenwesens

Rino Modonutti (Padua): Epigrafi e monete alle origini del preumanesimo

Étienne Doublier (Köln): Kopieren, übertragen, selektieren. Minoritische Privilegiensammlungen im Vergleich

Georg Christ (Manchester): Schriftlichkeit, Staatlichkeit, bürokratisches Wissensmanagement. Venezianische Kapitularien im 14. Jahrhundert

Giuseppe Cusa (Aachen): „Libri de generatione civium Urbis Paduae“ zwischen Historiographie, Wappenbuch und Stadtführer

Nadine Holzmeier (Rostock): Funktionsebenen einer diagrammatischen Chronik. Die „Chronologia Magna“ des Paolino Veneto

Sarina Kürsteiner (New York): Almost Sacred? Signing with Reliquary-Monstrances in Bologna ca. 1294–1305

Annette Hoffmann (Florenz): Formen und Funktionen von Intermedialität in der Bologneser Buchmalerei


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch, Italienisch
Sprache des Berichts